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Nordsee-Plaudereien

stürmisches Wetter am Strand vom Spiekeroog
Nordsee at its best: der Strand von Spiekeroog

Glaubt man einem etwas zweifelhaften Schlager, sind an der Nordseeküste die Fische im Wasser und selten an Land. Glaubt man dem britischen Historiker und Publizisten Michael Pye, machte die Nordsee, dieses kalte graue Meer, "in dunklen Zeiten die moderne Welt möglich" (S. 17). Das hört man doch gerne. Nicht nur das Mittelmeer, das die Römer großspurig als das ihrige bezeichneten, sondern auch die raue See im Norden brachte den Menschen Kultur und Zivilisation. Kein Wunder, das sich Pyes Buch „Am Rand der Welt. Eine Geschichte der Nordsee“ zur Zeit auf dem Büchertisch jeder besseren Buchhandlung findet. Von den Friesen um 700 bis zu den flandrischen Handelsstädten im 16. Jahrhundert plaudert sich Pye durch die Zeiten. Das Buch wurde von den Feuilletons deutscher Zeitungen weitgehend positiv beurteilt, was vielleicht daran liegt, dass anekdotenhaftes Erzählen von Geschichte in Deutschland immer noch als neu und fortschrittlich betrachtet wird. Englischsprachige Zeitungen waren da wesentlich kritischer. Und tatsächlich lässt einen Pyes Buch verwirrt und ratlos zurück. Es ist ein Angebot wie auf dem Wühltisch beim Schlussverkauf: Man packt alles in eine Tüte und zu Hause stellt man fest, dass nichts zusammenpasst.

Wurde das Geld von den Friesen neu entdeckt?

Der kundige Leser entdeckt Ungenauigkeiten. Die Friesen gehörten zweifellos zu den interessanteren Bewohnern der Nordseeküste. Sie waren geschickte Kaufleute und so begehrt, dass Godofred, ein dänischer Teilkönig, Warlord oder wie immer man ihn bezeichnen möchte, einen ihrer Handelsplätze bei Wismar zerstörte und sie in seinem Gebiet wieder ansiedelte. So konnte frühmittelalterliche Handelspolitik aussehen. Doch so geschickt und begehrt die Friesen auch waren, das Bargeld erfanden sie keineswegs neu. Die Auffassung, dass im Frühmittelalter Tauschhandel vorherrschte und Münzen nicht als Zahlungsmittel angesehen, sondern in Schatztruhen gehortet wurden, gilt als widerlegt. Geld macht das Leben einfacher. Das wusste man auch schon um 700. Den Wert eines Schweins in Linsen zu bestimmen, ist prinzipiell möglich, aber wenig praktikabel. Und deswegen war nach dem Untergang Roms zwar wesentlich weniger Geld im Umlauf, aber es verschwand nicht völlig. In der friesischen Handelsniederlassung Dorestad wurden Münzen geprägt, das ist schon richtig, aber nicht nur in Dorestad, sondern auch an vielen anderen Orten. Es war eher ein Problem, dass dem König in den politischen Wirren die Kontrolle über die Münzprägestätten entglitt. Es gab eher zu viel als zu wenig und mit dem Reinheitsgehalt der Silbermünzen stand es auch nicht immer zum Besten. Im Osten und Norden wog man gehacktes Silber als Zahlungsmittel ab, auch Münzen wurden gestückelt. Vom Prinzip her ist es das gleiche. Sogar noch ein bisschen praktischer, denn auf den Märkten musste man fremde Münzen in die dort gültige Währung umtauschen. Pyes Ausführungen über die Friesen lesen sich nett, aber es fehlt die Tiefe.

Nordsee-Netzwerke

Eigentlich gäbe es viel zu erzählen über die Nordsee. Zum Beispiel, dass sich irische Mönche in winzigen Booten auf den Weg über die tosende See machten. Ihr Ziel war der Kontinent, wo sie missionieren wollten und im Leben in der Fremde ihr persönliches Heil suchten. Sie gründeten Klöster und ihre strengen Regeln zogen viele fränkische Adlige an. Im Jahr 597 kam Papst Gregor der Große auf die Idee 40 Missionare nach England zu schicken. Die bekehrten Angelsachsen schickten sich nun ihrerseits an, den Glauben auf den Kontinent zu bringen. Ihr Konzept hieß: Kooperation mit dem Herrscherhaus und enge Bindung an Rom. Den Iren wäre es nicht eingefallen, in Rom um Erlaubnis für ihre Missionsarbeit zu fragen, aber die Angelsachsen taten es. Ihr Spitzenmann Bonifatius ging sogar dem Papst mit seinen ewigen Rückfragen auf die Nerven. Die Karolinger gewöhnten sich daran, den Papst als Autorität zu sehen und fragten ihrerseits in Rom nach, als sie das alte Herrscherhaus stürzen wollten. Netzwerken von Rom über die Nordsee, zurück in das Frankenreich und wieder nach Rom. Irgendwann vereinigte sich (fast) ganz Europa unter einem Gott und die Nordsee wurde christlich. Leider findet sich davon bei Pye nichts. Warten wir auf einen anderen, der diese Geschichte schreibt.

Ein Buch für den Strandkorb

Wer gerne Geschichte in Geschichten serviert bekommt, für den ist dieses Buch sicher zu empfehlen. Es eignet sich auch zur Strandlektüre und wenn man beim Rauschen des Meeres wegdöst, kann man dies getrost tun und mit wohligem Schauer von den orgiastischen Übungen der Wikinger träumen (3. Kapitel). Fazit: Dieses "frustrating book", so ein englischer Rezensent, bleibt den Beweis schuldig, dass die Nordsee die moderne Welt erst möglich gemacht habe. Der wäre noch zu führen. Wer sich also berufen fühlt - es gibt noch viel zu tun.

Michael Pye: Am Rand der Welt. Eine Geschichte der Nordsee. S. Fischer Verlag, 2017, 26 €.

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