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Schon mal Proust gelesen?

Etwas Gebäck und Tee - der Schlüssel zu Prousts Werk
Etwas Gebäck und Tee - der Schlüssel zu Prousts Werk

„Das Leben ist zu kurz und Proust zu lang“, lautete das Urteil von Anatole France beim Erscheinen des ersten Bandes von „À la recherche du temps perdu“ - „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, von Kennern kurz die Recherche genannt. (Geben Sie Ihrem Gesicht einen Ausdruck von Bedeutsamkeit und sagen Sie „Ah, die Recherche“, falls mal die Rede darauf kommt.) Dabei kannte Anatole France 1913 nur den ersten, geradezu lächerliche 712 Seiten umfassenden ersten Band. Sechs weitere Bände sollten noch erscheinen, der letzte 1927, fünf Jahre nach dem Tod von Marcel Proust. Mehr als 4000 Seiten hat der geneigte Leser vor sich. Eine Aufgabe herkulischen Ausmaßes, die generalstabsmäßige Planung erfordert. Der Schriftsteller Jochen Schmidt hatte sich jeden Tag 20 Seiten des Romans vorgenommen, macht etwa 200 Tage mit zwei, drei Stunden Lesezeit, dank der proustschen Neigung zu extrem langen Schachtelsätzen und detailversessenen Beschreibungen. Schmidt mixte Lese- und Alltagserfahrungen vom kaputten Kühlschrank bis zu einer unglücklichen Liebe, bloggte darüber und veröffentlichte das Ganze 2008 als Buch „Schmidt liest Proust: Quadratur der Krise“. Auch für Nicht-Proust-Kenner sehr zu empfehlen. Macht Lust auf das Original. Bringt es aber auch auf 600 Seiten.

Nächtliches Schreiben

Die Veröffentlichung des ersten Bandes der Recherche muss Proust selbst finanzieren. Die Kritik ist anfänglich nicht gerade begeistert. Man reagiert verhalten. Proust, durch das Erbe seiner Mutter finanziell unabhängig, gilt nicht zu Unrecht als Lebemann, als Dandy. Ein Verleger sagt, er könne nicht begreifen, wie jemand allein dreißig Seiten über die Tatsache schreiben könne, dass er sich vor dem Einschlafen lange im Bett herumwälze. Kein Zweifel, Proust ist anstrengend mit seiner oft ermüdenden Larmoyanz (nie im Liegen lesen!), den unerträglichen Eifersuchtsszenen, den langatmigen Schilderungen eines Kleides, einer Blume. Doch mit dem zweiten Band kommt die Anerkennung. Proust arbeitet fieberhaft die Nächte durch, als ahne er, dass ihm nicht mehr viel Zeit bliebe. Nachts leidet der Kränkelnde weniger an den asthmatischen Erstickungsanfällen, die ihn immer wieder heimsuchen. Er schreibt in seinem Bett, putscht sich mit Mokka auf, nimmt tagsüber Schlafmittel. Und das Werk wächst immer weiter, Proust ändert gerne und viel. Eines Morgens im Frühjahr 1922, Proust residiert inzwischen in einem mit Kork ausgeschlagenen Schlafzimmer (kein Lärm!), verkündet er seiner Haushälterin, dass er in dieser Nacht das Wort „Ende“ geschrieben habe. Im November desselben Jahres stirbt er an einer Lungenentzündung. Die drei letzten Bände der Recherche veröffentlicht Prousts Bruder Robert, von Beruf Arzt, posthum. Was übrigens keine leichte Aufgabe war, denn Proust hatte keinesfalls ein druckfertiges Manuskript hinterlassen.

Etwas Gebäck und Tee

Die Schlüsselszene des Romans findet sich am Ende des ersten Kapitels des ersten Bandes. Ein kleines Stück eines Gebäcks, einer Madeleine, eingeweicht in Lindenblütentee, berührt an einem kalten Winterabend den Gaumen des Erzählers. Und der Geschmack von Tee und Gebäck erweckt in ihm die unwillkürliche Erinnerung an die Kindheit auf dem Land, an die in Lindenblütentee getauchte Madeleine, die es im Zimmer der Tante zu kosten gab. Ein Déjà-vu-Erlebnis. Wir alle kennen das. Die proustschen mémoires involuntaires, die unbewussten Erinnerungen, die unwillkürlich in uns aufsteigen, ausgelöst von einem Geruch, einem Geräusch einem Geschmack, auch einem Stolpern über einen unebenen Pflasterstein, das sind die wahren Erinnerungen. Der Erzähler der Recherche, Proust nennt ihn „einen Mann der ich sagt“, will Schriftsteller werden, hat aber keinen rechten Plan. Er lebt ein Leben als wohlhabender Müßiggänger, hat Liebesaffären, pflegt Freundschaften, verkehrt in den Salons des Adels, verbringt Zeit mit Menschen, die er nicht einmal besonders mag. Viel Zeit. Erst im Alter erkennt er, ausgelöst durch die unwillkürlichen Erinnerungen, dass genau dies, seine Erinnerungen, das Thema seines Schreibens sein muss. So heißt auch der letzte Band „Die wiedergefundene Zeit“ und das hat doch etwas sehr Tröstliches, dass da jemand am Ende seiner Tage begreift, dass er seine Zeit nicht verschwendet hat. Denn das ist doch die große Frage: Ist Leben im Augenblick überhaupt möglich oder ist Leben nicht eigentlich Erinnerung an den Augenblick?

Lesen Sie!

So, und jetzt versuchen Sie mal, jemandem zu erklären, warum einer 4000 Seiten schreibt, nur weil er eine Madeleine in Lindenblütentee taucht und warum man das dann auch noch lesen sollte. Funktioniert nicht. Also lesen Sie, lesen Sie. Sie werden beglückende Sätze finden, die man sich ob ihrer Schönheit in das Gehirn einbrennen möchte und die man dann doch wieder vergisst. Leider. Aber brühen wir uns doch eine Tasse Lindenblütentee auf, tauchen eine Madeleine ein und hoffen auf die unwillkürliche Erinnerung. Das Gedächtnis wird scheu, wenn man es zwingt, das wusste schon Michel de Montaigne vor 400 Jahren.

 

Und: Nichts gegen E-Books, aber Proust muss man gebunden lesen, allein schon dieses dünne Papier...

 

Und wenn Sie dann das Proust-Fieber gepackt hat, sollten Sie unbedingt noch einen Blick in "Monsieur Proust" werfen, die Erinnerungen von Céleste Albaret, Prousts Haushälterin und Vertraute in seinen letzten acht Lebensjahren. Nach seinem Tod 1922 bewahrte sie 50 Jahre  Stillschweigen. Erst 1973 sprach die 82jährige mit dem Autor und Übersetzer Georges Belmont über ihr Leben mit dem Schriftsteller. Charmant, sehr privat und auch ein bisschen listig im Ignorieren proustscher Geheimnisse - es ist die Geschichte einer großen Faszination. Das Buch ist zur Zeit leider nur antiquarisch zu erhalten.