· 

Links sind Bäume, rechts sind Bäume...


Waldgeschichte

Der Franzose zettelt eine Revolution an, der Deutsche geht ins Grüne. Wer auch immer das gesagt hat, treffender kann eine Beschreibung des deutschen Nationalcharakters kaum sein. Gibt es eine engere Beziehung als die der Deutschen zu ihrem Wald? Nun geht es den Wäldern schlecht, extremes Wetter setzt ihnen zu und der Borkenkäfer nagt fleißig. Was tun? Zurück zum Ursprünglichen, zu den unwegsamen, dunklen (Misch)Wäldern vergangener Zeiten? Da gibt es nur ein Problem: Das ist schlicht unmöglich.

Wald

Das Land, urteilte Tacitus in seiner römischen Studierstube über Germanien, sei doch im Allgemeinen entweder durch Wälder schauerlich oder durch Sümpfe wüst. Mit eigenen Augen gesehen hatte er das waldreiche Germanien zwar nicht, doch er hatte vermutlich recht. Mit dem Niedergang des Römischen Reiches nahm das widerspenstige Dickicht eher noch zu. Das frühmittelalterliche Europa war extrem dünn besiedelt. Gehöfte, Dörfer, Überreste von Städten waren kleine Inseln innerhalb riesiger, fast undurchdringlicher Waldgebiete. Ursprünglich war dieser Wald allerdings schon lange nicht mehr. Der Mensch hatte so gut wie überall seine Spuren hinterlassen.    

Die Mär vom unberührten Wald

Die Siedlungen des frühen Mittelalters bestanden entweder aus sehr großen Einzelhöfen oder aus einer Ansammlung weniger Höfe, oft waren es nur drei oder vier. Felder und Weiden umgaben die Hütten, dann der immer dichter werdende Wald. Die Bevölkerung war ungleichmäßig verteilt, viele Menschen lebten in den alten Römergebieten im Westen, an der Küste und an den Flüssen. Die Gebiete östlich des Rheins waren nur dünn besiedelt. Das Siedlungsbild änderte sich ständig. Höfe wurden immer wieder verlegt oder aufgegeben. Es fehlte an Dünger und das Land war oft schon nach wenigen Jahren erschöpft. Noch im Sachsen der Ottonenzeit um die erste Jahrtausendwende „wanderten“ die Gehöfte, weil nach einer Generation die in das Erdreich eingegrabenen tragenden Holzpfosten der Häuser verwittert waren.    

So hatten es schon die ersten Ackerbauern gehalten. Verfielen ihre Hütten, bauten sie neu. Das ging nur begrenzt am selben Ort, denn irgendwann wurden die Bäume mit geraden Stämmen, die man zum Bauen brauchte, knapp. Gab es in der Nähe kein Bauholz mehr, wurde die Siedlung aufgegeben und man musste mit dem mühsamen Geschäft der Rodung von neuem beginnen. Vom 5. vorchristlichen Jahrtausend bis zum Mittelalter, so schreibt der Geobotaniker Hansjörg Küster in seiner „Geschichte des Waldes“, war jede Waldparzelle in Mitteleuropa einmal von Menschen gerodet worden. Der Wald schloss sich wieder über den Überresten der Menschen, doch er sah nicht mehr aus wie zuvor. Auf den verlassenen Siedlungsflächen wuchsen vor allem Buchen, dort, wo sich viel Stickstoff im Boden angereichert hatte, auf den ehemaligen Viehweiden und Bauplätzen, machte sich Schwarzer Holunder breit. Der Wald vor 1000 Jahren bestand schätzungsweise zu 80 Prozent aus Laubbäumen, vor allem Rotbuchen und Eichen. (Heute 31 Prozent Laubwälder, 54 Prozent Nadelwälder und 13 Prozent Mischwälder, die restlichen zwei Prozent sind Gestrüpp.)    

Baumstämme

Holzzeitalter

Die Bedeutung des Waldes für den Menschen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn er lieferte den für das Überleben wichtigsten Rohstoff: Holz. Mit Holz wurde gebaut, geheizt und gekocht. Ohne Holz wäre ein sesshaftes, bäuerliches Leben kaum möglich gewesen. Und der Wald war wichtig als Weide für Ziegen, Rinder und vor allem Schweine. In der Frühzeit des Mittelalters scheint die Nutzung des Waldes als Viehweide und zur Gewinnung von Bau- und Brennholz frei gewesen zu sein. Das änderte sich jedoch. Die Ansichten von Bauern und Grundherr über die Zahlung einer Abgabe stimmten nicht immer überein. Der Bischof von Osnabrück war Ende des 11. Jahrhunderts  so erzürnt über seine Bauern, die nicht nur ihre Schweine in den Wald trieben, sondern auch noch die Eicheln säckeweise aus dem Wald trugen, dass er die schlimmste Strafe verhängte und sie als Kirchenräuber bannte.    

Die Wälder schwinden

Die von Tacitus beschworenen unendlichen Wälder Germaniens wurden durch ein rasantes Bevölkerungswachstum erheblich dezimiert. Man schätzt, dass in West- und Mitteleuropa um 400 etwa 5,5 Millionen Menschen lebten, um das Jahr 1000 waren es mehr als doppelt soviel, um 1340, bevor der Schwarze Tod Europa heimsuchte, geht man von 35 Millionen aus. Waren um das Jahr 600 noch zwei Drittel bis drei Viertel der Fläche des heutigen Deutschlands bewaldet (man kann hier wirklich nur sehr grob schätzen), waren es um das Jahr 1300 weniger als ein Drittel und damit weniger als heute. Der Holzbedarf war enorm. Besonders viel wurde bei der Salzsiederei als Feuerholz für die Sudpfannen verbraucht und bei der Erzeugung von Holzkohle (das Verhältnis Holz zu Holzkohle liegt bei zehn zu eins). Doch am problematischsten war die Deckung des Bedarfs an Bauholz. Für ein Bürgerhaus waren zwölf bis 36 gerade gewachsene Stämme nötig, für eine Kirche das Zehnfache. In der Nähe der Städte gab es praktisch keine gerade gewachsenen Stämme mehr. Die Wälder in der Umgebung dienten der Gewinnung von Brennholz. Dabei machte man es sich zunutze, dass viele Arten wie Buche, Linde oder Hasel problemlos wieder ausschlagen. Also fällte man die Bäume alle paar Jahre abschnittsweise und ließ sie dann wieder wachsen. Gerade Stämme erhielt man so aber nicht mehr. Daher nehmen Erzählungen über „Bauwunder“ zu. Als um 1140 im Kloster St. Denis die Klosterkirche erneuert werden sollte, lachten die Einheimischen den Abt aus, als er sich nach großen, gerade gewachsenen Bäumen erkundigte. Der Wald sei verschwunden, weil sich der Grundherr mit dem König angelegt habe und das Holz für den Bau von Verteidigungsanlagen verbraucht worden sei. Doch als wahrer Mann Gottes ließ sich der Abt nicht entmutigen und kämpfte sich unverdrossen durch das Dornengestrüpp. Soviel Gottvertrauen wurde natürlich belohnt. Der Abt fand zwölf hohe, gerade gewachsene Bäume - genau so viel wie er für seine Kirche brauchte.    

Wald schwarz-weiß

Früher Naturschutz?

Natürlich versuchte man gegenzusteuern. 1294 wurde in Nürnberg die älteste Waldordnung erlassen. Andere Städte folgten. Mehr oder weniger besagten sie alle das Gleiche: Einschränkung der Waldweide, Schutz junger Bäume, Verbot des Schlagens von langen Stämmen, wenn auch kürzere ausreichten, strenge Strafen für Brandstifter. 1369 versuchte es der Nürnberger Peter Stromer zum ersten Mal mit künstlicher Tannensaat. Der Familie Stromer machte ihr Vermögen mit Handel und dem Abbau und der Verhüttung von Metallen. Und sie setzte auf neue Technologien, Peter Stromers Halbbruder betrieb die erste Papiermühle Deutschlands (dafür brauchte es allerdings kein Holz, sondern Lumpen). Die Wälder um Nürnberg gaben nicht mehr genug Holz für die vielen Köhlereien und die Handwerksbetriebe in der Stadt her. Stromer ließ „Zapfensteiger“ in die Wipfel von Nadelbäumen steigen, die die noch unreifen Zapfen ernteten. Auf Dachböden wurden sie über den Winter gelagert und im Frühjahr brachte man die Samen dann in den gepflügten Boden aus. Es war ein Geschäft, das einen langen Atem erforderte. Aber ein Erfolgsmodell: Die Tannensaat wurde ein Exportschlager, überall in Europa griff man auf die Samen aus Nürnberg zurück, wenn man eine Brachfläche wieder aufforsten wollte. Aber Stromer war nicht der erste mittelalterliche Grüne. Seine Interessen waren rein ökonomisch, nicht ökologisch. Er war nicht an der Pflege des Waldes, sondern an der Gewinnung von Holz für seine Unternehmungen interessiert. Im Mittelalter war der Wald noch kein Sehnsuchtsort. Man ging nicht ins Grüne - außer man musste.    

Nichts bleibt wie es ist

2020 besteht ein Drittel der Bundesrepublik aus Wald - das sind etwa 90 Milliarden Bäume und es werden ständig mehr. Noch immer gehört Deutschland zu den waldreichsten Ländern Europas (Tacitus lässt grüßen!). Buche und Eiche stehen heute an dritter und vierter Stelle, am häufigsten sieht man Fichten und Kiefern in deutschen Wäldern. Das wird sich in den nächsten Jahrzehnten ändern. Aber was wir auch tun, „ursprünglich“  wird der Wald nicht mehr.    

Zum Nach- und Weiterlesen

Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 2008

Mit etwas anderem Schwerpunkt:

Hansjörg Küster: Der Wald: Natur und Geschichte, München 2019

Wer etwas über das besondere Verhältnis der Deutschen zu ihrem Wald erfahren möchte, wird vielleicht:

Johannes Zechner: Der deutsche Wald. Eine Ideengeschichte, Darmstadt 2016

anregend finden.

Und wer an Fakten interessiert ist, dem sei dieser Artikel empfohlen:

Gunther Willinger: So retten wir den Wald, Zeit Online 27.01.2020