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Eingemauert - Das Leben und Sterben der Wiborat

Leicht war dieses Leben gewiss nicht, aber immerhin selbstgewählt. Im Jahr 916 ließ sich Wiborat in St. Gallen bei der Magnuskirche einmauern. Sie hatte beschlossen, den Rest ihres Lebens in einer spartanischen Zelle zu verbringen, Geist und Fleisch abzutöten, um so Gott näher zu sein. Solch religiöser Rigorismus mutet uns heute fremd an und auch die (westliche) Kirche des Mittelalters war von dieser Art religiösen Eifers nicht begeistert. Zu leicht konnte sich die Sünde des Hochmuts breitmachen und überhaupt: Alles Extreme störte nur die kirchliche Ordnung. Trotzdem gab es während des ganzen Mittelalters Frauen (und auch einige Männer), die diese Lebensform als Eingeschlossene wählten. Man nennt sie Inklusen, Reklusen oder auch Klausner.  

Vergittertes Fenster der Klausnerin Wiborat in der Kirche St. Mangen in St. Gallen.
Fenster der Wiborat in der Kirche St. Mangen. Ob es sich wirklich um das Fenster ihrer Klause handelt, ist umstritten.

Das ersehnte Martyrium

Am 1. Mai 926, zehn Jahre nach ihrer Einschließung, wurde Wiborat von plündernden Ungarn auf der Suche nach Beute erschlagen. Sie hatten vielleicht die Schatzkammer des Klosters in dem türlosen Anbau vermutet, waren über das Dach eingestiegen und hatten statt der erhofften Pretiosen nur eine ausgemergelte, betende Frau vorgefunden. Die Eindringlinge rissen ihr die Kleider bis auf das raue Untergewand, das sie zur Buße auf der bloßen Haut trug, vom Leib. Wiborat hatte den Überfall auf das Kloster und auch ihr eigenes Schicksal vorhergesagt. Die Mönche konnten sich selbst, die Klosterschätze und große Teile der Bibliothek in Sicherheit bringen. Wiborat blieb als einzige zurück. Sie weigerte sich zu gehen, erhoffte sich vermutlich das Martyrium, war es doch der sicherste Weg zur sofortigen Seligkeit. Ihre Hoffnung sollte sich erfüllen. Die Ungarn, enttäuscht von der geringen Beute, schlugen auf Wiborat mit ihren Äxten ein und ließen sie schwerverletzt zurück. Nach acht Tagen kehrten die Mönche, unter ihnen Wiborats Bruder Hitto, zurück und fanden die tote Frau. Die Mönche hielten die Erinnerung an Wiborat wach, verfassten zwei Biografien und begingen regelmäßig den 2. Mai als Jahrestag ihres Todes. 1074 wurde sie als erste Frau in einem offiziellen Verfahren vom Papst heiliggesprochen. 

Das eigene Selbst opfern

Eigentlich wissen wir nicht viel über die Frau, die zehn Jahre in einer kleinen Zelle verbrachte. Die beiden Biografien beschreiben nur das standardmäßige Leben einer späteren Heiligen. Dazu gehört, dass sie schon als Kind Spiele jeder Art verabscheute, ständig in die Kirche ging und unangenehm werden konnte, wenn ihre Eltern nicht ihrem Beispiel folgten. Eine Heirat kam für das Mädchen aus vornehmer Familie natürlich nicht in Frage, statt dessen stellte sie sich in den Dienst ihres Bruders Hitto, der in der Klosterschule von St. Gallen zum Priester ausgebildet wurde. Sie unternahm mit ihrem Bruder eine Wallfahrt nach Rom, überredete ihn das Mönchsgelübde abzulegen, pflegte hingebungsvoll ihre Eltern und lebte ein asketisches Leben. Kein Fleisch, kein Wein, Nachtwachen, Schlafen auf dem nackten Boden, ein Stein als Kopfkissen. Offenbar wollte sie schon früh ein Leben als Inkluse führen. Die Kirche forderte dafür jedoch eine Probezeit. Ein solches Leben kam nur für Menschen, die über große mentale Stärke verfügten, in Frage. Mit zwei Dienerinnen lebte Wiborat vier Jahre in einer offenen Zelle. Erst dann erlaubte der Bischof, sie endgültig bei St. Mangen einzuschließen. Da Inklusen die Welt für immer verließen, hatte das feierliche Zeremoniell ihrer Einschließung Anklänge an eine Totenmesse. Wiborats Beispiel zog andere Inklusen an, wie die schwerkranke Rachild, die in einer Zelle neben Wiborat 26 Jahre als Inkluse lebte.

Für die Welt gestorben?

Bis zum 12. Jahrhundert waren die Zellen von Inklusen an ein Kloster angeschlossen, später, in den Städten, fand man sie an Kirchen, Stadtmauern oder Brücken. Um 1500 soll es allein in Köln 18 Klausen gegeben haben. Diese Menschen hatten sich von der Welt verabschiedet und lebten doch in ihr. Die Klausen waren nicht gerade komfortabel. Durch ein vergittertes Fenster kam Licht und Luft in die Zelle und der oder die Inkluse konnte mit Nahrung versorgt werden. Lag die Klause an einer Kirche, gab es ein weiteres Fenster zum Altar, durch das die Teilnahme am Gottesdienst möglich war. Ein drittes Fenster galt als Luxus, ebenso wie eine Heizung. Versorgt wurden die Inklusen durch das Kloster oder die Bewohner der Stadt. Und natürlich gab es Bedienstete, die außerhalb der Zelle ein ähnlich karges Leben führten und mit einer Schelle herbeigerufen werden konnten. Im Notfall durfte die Zelle verlassen werden, es hätte Wiborat freigestanden, sich mit den Mönchen in Sicherheit zu bringen. Das Leben als Inkluse verlief gleichförmig, aber es war kein Leben in völliger Isolation. Eine solche Lebensform zog Hilfe- und Ratsuchende und, davon kann man ausgehen, auch Schaulustige an. Im Fall der Wiborat = Frauen-Rat war der Name schon Programm. Der Kontakt mit der Außenwelt war grundsätzlich erlaubt, sollte aber auf ein Minimum beschränkt werden. Betriebsamkeit war eher die Regel. Die Inkluse Liutberga vermittelte von ihrer Zelle aus 30 Jahre lang jungen Mädchen hauswirtschaftliche Fähigkeiten und religiöse Belehrungen. Letzteres stand Frauen eigentlich nicht zu. Ja, es konnte geschäftig zugehen vor so einer Klause. Und offenbar fanden vor allem Frauen in diesem extremen Leben ihre Erfüllung.

Quelle: Vitae Sanctae Wiboradae. Die ältesten Lebensbeschreibungen der heiligen Wiborada, übersetzt von Walter Berschin, Historischer Verein des Kantons St. Gallen 1983

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